Leadership & Karriere Im autoritären Weißrussland soll Minsk zum liberalen Startup-Paradies werden

Im autoritären Weißrussland soll Minsk zum liberalen Startup-Paradies werden

Seit bald 24 Jahren regiert Alexander Lukaschenko Belarus mit eiserner Faust. Nun will der Präsident Minsk zum liberalen Paradies für Startups machen. Dabei hat sich dort längst eine boomende Szene entwickelt, ganz ohne Staat. Von Simone Brunner

Sie haben ihm zumindest schon einmal ein Denkmal gebaut. In der Aula der Staatlichen Universität für Informatik und Radioelektronik in Minsk steht das in Bronze gegossene Zukunftsversprechen: ein schlaksiger Student mit Rucksack, eine Hand lässig auf die Hüfte gelegt, auf dem anderen Arm lagert ein aufgeklappter Laptop, der Blick geht in Richtung besseres Morgen.

So befremdlich die Statue im Stil des sozialistischen Realismus auf den Besucher aus Westeuropa wirkt, sie versinnbildlicht ziemlich genau, was gerade in Belarus geschieht: Es waren die Sowjets, die die Grundlage für den IT-Sektor legten. Minsk galt als Kaderschmiede für Mathematiker und Ingenieure im Rüstungswettlauf mit dem Westen. An diese Tradition – allerdings unter friedlichem Vorzeichen – will Präsident Alexander Lukaschenko anknüpfen.

Postsozialistischer Realismus: Denkmal des Studenten mit Laptop in der Minsker IT-Uni. Foto: Maxim Sarychau

Schon seit Jahren ist Belarus verlängerte IT-Werkbank für westliche Unternehmen, hier werden digitale Produkte für Adidas, Microsoft, Coca-Cola oder die Londoner Börse geschnürt. Nun soll der nächsten Schritt getan werden. Darum hat Lukaschenko Ende 2017 ein Dekret beschlossen, das Belarus hinsichtlich digitaler Wirtschaft zu einem der liberalsten Länder weltweit und Zentrum für Zukunftstechnologien machen könnte. Das Ziel: Belarus soll international erfolgreiche Tech-Startups hervorbringen.

Erfolgscase MSQRD

Dabei gibt es die längst. Als Apple seine neuen Emojis vorgestellt und die Welt mit sprechenden Köpfen von Affen, Schweinen und Einhörnern amüsiert hat, saß Andrej Jantschurewitsch vor seinem Rechner in Minsk und dachte sich: Das können wir auch. Jantschurewitsch ist kein Mann des Understatements.

Der 26-Jährige zählt zu den Stars der belarussischen Startup-Szene, war Manager bei Masquerade Technologies, dem Startup hinter der Selfie-App MSQRD, deren User sich Masken von Leonardo DiCaprio, Conchita Wurst oder Santa Claus über das Gesicht legen können. Innerhalb weniger Wochen wurde ¬MSQRD Anfang 2016 zur Hype-App. Im März übernahm Facebook Masque¬rade Technologies und bescherte Belarus einen Erfolgscase.

Zwar saß die Firma offiziell in London, doch die Software, die Facebook als „Weltklasse-Technologie für Videos“ adelte, wurde in Belarus gecodet, wo man nun den Beweis hatte, es mit dem Silicon Valley aufnehmen zu können.

Neue Formen der Interaktion zwischen Grafik und Welt

Heute sitzt Jantschurewitsch in Kapuzenpulli, Parka und mit Undercut in seinem neuen Büro in Minsk. Schwarze Schreibtische sind zu zwei Reihen zusammengeschoben. Mit Freunden, Kollegen und einem Grafiker aus dem MSQRD-Team hat er AR Squad gegründet. „Wir denken uns neue Formen der Interaktion zwischen der Grafik und der realen Welt aus“, sagt Jantschurewitsch und erklärt, was er damit meint: Etwa eine virtuelle Figur, die auf einer Augmented-Reality-Brille auf das reale Straßenpflaster projiziert wird und Ortsunkundige an die Hand nimmt, um sie etwa zum richtigen Bus ins Stadtzentrum zu führen.

Oder eben animierte Emojis, die die Mimik des Users übernehmen, wie sie Apple zuletzt vorgestellt hat. „Angesichts dessen, dass wir viel weniger Ressourcen haben, finde ich, dass sie uns ganz gut gelungen sind“, sagt Jantschurewitsch. Außerdem funktioniert seine Technologie nicht nur mit dem Facetracker von Apple.

Das Team von AR Squad arbeitet an neuen Interfaces für Datenbrillen und Augmented Reality. Foto: Maxim Sarychau

Das Büro von AR Squad befindet sich an der Sybizkaja-Straße, der heißesten Adresse von Minsk. Durch große Fenster blickt man auf die weißen Kirchtürme der Hohen Stadt, unten reihen sich Bars, Cafés und Shops aneinander. Eine Kulisse, vor der man schon mal größer, international denken kann. „Datenbrillen werden ganz neue Möglichkeiten eröffnen“, sein Team arbeite bereits an „Effekten der nächsten Generation“, sagt Jantschurewitsch. AR Squad will mitspielen, wenn die Zukunft neuer Technologie definiert wird.

Dieses neue Selbstbewusstsein weht auch durch die Büros anderer IT-Gründer und Computertüftler in Belarus. Längst ist das 9,5-Millionen-Einwohner-Land zwischen Polen, dem Baltikum, der Ukraine und Russland zu einem Hub für die digitale Wirtschaft geworden. Der Chatdienst Viber? In der polnisch-belarussischen Grenzstadt Brest programmiert. Das Kriegsspiel „World of Tanks“? Vom belarussischen Entwickler Wargaming.net produziert. Wenige Monate nach dem MSQRD-Deal wurde die Gesichtserkennungsapp Fabby, hinter der das belarussische Startup AIMatter steht, von Google gekauft.

IT-Nachwuchssorgen

Inzwischen kommen die Hochschulen nicht mehr nach, genug Nachschub für die IT-Unternehmen herbeizuschaffen. Selbst in der Minsker Metro wird auf Stickern („Das Land braucht Programmierer!“) um Personal gebuhlt, mit Gehältern, die weit über dem monatlichen Landesdurchschnitt von 420 Euro liegen. Während das belarussische BIP zuletzt insgesamt um drei Prozent geschrumpft ist, wuchs der IT-Sektor 2016 um 20 Prozent.

Ein Ort, von dem dieses Wachstum ausgeht, findet sich in einer Seitenstraße nahe des Minsker Bahnhofs. Hinter wuchtigen Bauten aus der Stalin-Zeit liegt der Startup-Hub Imaguru. Zu Sowjetzeiten wurden in dem gelben, langgezogenen Ziegelbau Waffen für die Rote Armee geschmiedet, heute ist er die erste Adresse für Nerds und IT-Gründer. Hier gibt es Vorträge zu Firmenfinanzierung, Motivationsseminare, Coworking-Plätze und Programme für die ersten Schritte als Unternehmer. Am Eingang hängen zwei Uhren – eine zeigt die Uhrzeit von Minsk, die andere die von San Francisco.

In einem fensterlosen Zimmer sitzt Dmitrij Kaigorodow. Er trägt eine Hornbrille, hellblaues Hemd, darunter ein T-Shirt mit einem Bild von Salvador Dalí. In einer Sprechblase steht daneben: „Will design to rock ’n’ roll!“ Wie will er in Belarus rocken? „Man muss versuchen, aus den Stereotypen auszubrechen“, sagt Kaigorodow. Risiko eingehen. Deswegen hat er seinen Job bei einer internationalen IT-Firma an den Nagel gehängt und selbst ein Startup gegründet.

Maxim Sarychau
In der Nische vorn: Dmitrij Kaigorodow gewann den US-Webshop-Anbieter Magento als Partner für sein E-Commerce-Optimierungstool Kuoll. Foto: Maxim Sarychau

Der 32-Jährige hat einen Werdegang, wie er im ungeschriebenen Buch der Minsker Karriereleiter steht: Mathematikstudium an der lokalen Universität, anschließend hat er sich bei internationalen Unternehmen seine Sporen verdient und bei Epam angeheuert, dem Softwaregiganten, der in den 90er-Jahren von einem Belarussen gegründet wurde und inzwischen an der New Yorker Börse notiert ist. Angestachelt durch den Erfolg von Minsker Startups wie MSQRD und AIMatter, wollte er irgendwann sein eigenes Ding machen. „Wenn die das können, dann kann ich das auch!“, sagt er.

Also gründete Kaigorodow das Startup Kuoll. „Wir beobachten, welche technischen Probleme bei den Onlineshops auftreten, und analysieren, wie diese den Umsatz beeinflussen“, sagt er. „Wir können dadurch sagen, wie verlustreich ein technisches Problem für den Anbieter ist.“ Das klingt zwar weniger glamourös als Selfie-Videos oder Gesichtserkennung, aber es ist lukrativ.

„Es ist gut, dass unser Markt klein ist“

Inzwischen kooperiert Kuoll mit der US-amerikanischen Onlineshop-Software Magento, die weltweit Hunderte Onlineshops betreut. Bei Startup-Wettbewerben in Europa hat Kuoll Preise abgeräumt. Er könnte eine lukrative Nische entdeckt haben, hofft Kaigorodow. „Schenja, wie viele Mitarbeiter werden wir in einem Jahr haben?“, fragt er seinen Kollegen, der sich gerade auf einem bunten Sitzsack fläzt. Der überlegt kurz und sagt ernst: „Keine Ahnung, vielleicht zehn?“

Belarus ist durch eine Union eng mit dem großen Nachbarland Russland verbunden und für viele ein unbeschriebenes Blatt. Doch zumindest im IT-Bereich ist es gelungen, sich aus dem Schatten des großen Bruderstaats zu lösen. „Es ist gut, dass unser Markt klein ist. Deswegen denken unsere Start¬ups gleich von Anfang an global“, sagt Jewgenij Puchatsch, der bei Imaguru die Gründer betreut. „Das ist ein großer Unterschied zu Russland. Dort ist der Markt zwar groß, aber der Schritt auf den internationalen Markt fällt ihnen dadurch viel schwerer als uns.“

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